Blindsimultan-Schnellschach-Weltrekord::Bericht von Marc Lang

"Schau mal, Mama, alles rot!", hieß es in meiner Kindheit in irgendeiner albernen Zahnpastawerbung, an die ich während des Blindsimultan-Schnellschach-Wettkampfes immer mal wieder denken musste. Ich hatte es in meiner Eingabemaske nämlich so eingestellt, dass das Feld, in dem jeweils der letzte Zugwechsel an jedem Brett angezeigt wurde, rot aufleuchtete, wenn das Zugrecht an mir war. Und da meine Gegner mit 15 Minuten plus 5 Sekunden pro Zug auch Schnellschach spielen mussten, war das fast ständig der Fall. In allen 12 Partien. Gleichzeitig.

Dabei ging es eigentlich ganz vielversprechend los: Die bei Blindsimultanen immer sehr schwierige Eröffnungsphase hatte ich ganz gut und ohne Aussetzer überstanden und dabei weniger Zeit verbraucht, als ich ursprünglich zu investieren beabsichtigte - gerade am Anfang, wenn die Partien alle noch ziemlich ähnlich aussehen und verlaufen ist es sehr wichtig, sich zu konzentrieren und in die Spiele hineinzudenken, um nicht frühzeitig Gefahr zu laufen, Verwechslungen oder vergessenen Zügen zum Opfer zu fallen. Insofern hatte ich eigentlich geplant, vor jedem Zug immer noch eine kleine Pause einzulegen, um die Stellung kurz "sacken" zu lassen. Leider hielt ich mich jedoch wie so oft nicht an die eigenen Absichten und zog - gehetzt von dem rot gefleckten Bildschirm - zumindest zu Beginn sehr schnell, was vorerst aber folgenlos blieb und als ich nach ca. 8 Zügen das erste Mal intensiver auf die Wand mit den Uhren schaute, sah ich noch keinen Grund zur Besorgnis: Mehr als eine halbe Stunde hatte ich noch nirgends verbraucht. Eine schnelle Hochrechnung ergab, dass ich bei gleichbleibendem Tempo - und vorausgesetzt, alle Partien würden bis zum Ende laufen - fast 50 Züge würde machen können.


Die tickende Software

Vielleicht kurz ein Wort zur Uhrensteuerung an sich. Diese war von Anfang an die größte technische Herausforderung des Wettbewerbs, denn schließlich konnte ich ja schlecht zu den Brettern laufen und die Uhren drücken. Theoretisch denkbar wäre eine Übertragung im "klassischen" Sinn gewesen, mit 12 Boten, die mir Zettel mit den Zügen bringen und dann jeweils eine von 12 auf meinem Tisch platzierten Uhren in Gang setzen, sobald sie mir den Zettel überreichen, aber das Chaos wäre hier vorprogrammiert, spätestens, wenn an mehreren Brettern Zeitnot ausbricht und Menschen mit Zetteln wild vor meinem Tisch durcheinander laufen. Auf der anderen Seite genügte es nicht, an jedes Brett ganz normal eine Uhr zu stellen und diese von den Spielern jeweils für sich und für mich drücken zu lassen, denn meine Zeit muss in dem Moment stehenbleiben, wenn ich meinen Zug sende und nicht erst, wenn mein Gegner ihn auf der Leinwand bemerkt. Also dachten wir uns ein etwas komplexeres, aber letztlich genaueres System aus, das mit DGT-Brettern, -Uhren, 3 Laptops und 2 Beamern arbeitete. Dies funktionierte wie folgt:

  1. Der Blindsimultanspieler gibt seinen Zug an seinem PC ein. Dieser wird an PC 2 gesendet, der mit einem Beamer verbunden ist, und dort auf der Großleinwand angezeigt. Unmittelbar nach Senden des Zuges stoppt die Uhr des Blindspielers an diesem Brett, die des Gegners läuft jedoch noch nicht wieder an.
  2. Der zuständige "Zugausführer" (wir hatten für jedes Brett einen im Einsatz) liest den Zug von der Leinwand ab, prüft ihn auf Legalität, führt ihn aus und setzt anschließend die Uhr des Schwarzen in Gang. Nach Ausführung des Zuges schreibt das DGT-Brett ihn in eine PGN-Datei.
  3. PC Nummer drei, der für die Uhrensteuerung zuständig ist, überwacht permanent die PGN auf Veränderungen. Er registriert den Zug von Weiß, folgert daraus messerscharf, dass Schwarz nun an der Reihe sein muss und setzt die Uhr des Nachziehenden in Gang
  4. Zieht wiederum der Schwarze, wird sein Zug direkt an den PC des Blindsimultanspielers gesendet, während PC Nr. 3 wiederum auf die Änderung der PGN mit dem Drücken der weißen Uhr reagiert.

Einer der Hauptakteure verweigert den Dienst

All das ist zugegebenermaßen ein wenig umständlich, aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht gefunden, denn leider ist es nicht möglich, auf die DGT-Uhr direkt von außen zuzugreifen. Man kann ihren aktuellen Stand lediglich aus der PGN herauslesen. Jedenfalls ist anhand des oben skizzierten Ablaufs klar, dass jeder der drei PCs für sich unverzichtbar ist - und dass ein Ausfall auch nur von einem katastrophal. Doch genau das passierte gut eine Stunde vor Beginn des Events, als PC Nr. 2 (zuständig für die Anzeige der Züge auf der Großleinwand) unentschuldigt den Dienst quittierte und nach einem Neustart schlichtweg nicht mehr hochzufahren gedachte. Selbst der Einsatz massiven Know-Hows der versammelten Experten vermochte ihn nicht mehr zum vernünftigen Funktionieren überreden und das Einzige, was wir mit Mühe und Not noch hinbekamen war ein Betrieb im Abgesicherten Modus. Das lief zwar überraschend stabil, aber ging auf Kosten des Video-Livestreams, für den ich eigenes eine Kamera gekauft hatte und die nunmehr nutz- und treiberlos auf einer Säule fixiert vor sich hinmoderte.

Aber zurück zur Blindsimultanerei. Dort grübelte ich weiterhin eingekeilt zwischen meinen Gegnern, die an zwei V-förmig angeordneten Tischreihen hinter mir saßen, und einem emsig filmenden Kamerateam der ABC, deren drohende Linse einem ständig bewusst machte, dass Nasebohren, Grimassen schneiden und Kraftausdrücke rufen auch im dringenden Bedarfsfalle nicht auf der Agenda standen. Mein persönlicher Favorit war der wie ein Ghostbuster ausgerüstete Kameramann, der vor meinem Tisch sogar eine Art Schiene verlegt hatte, um geräusch- und ruckelfrei vor mir hin- und hergleiten zu können.

 

Der Gedächtnistest
Vereinbarungsgemäß befragte mich Moderator Todd Sampson nach gut 2 Stunden ein paar Fragen zu meinem Befinden, ehe wir die Partien für den kleinen "Gedächtnis-Gig" (ich setze einen Preis aus für denjenigen, der mir hierfür einen besseren Ausdruck liefert. Ich eiere hier nunmehr schon seit bestimmt 10 Artikeln auf der Suche nach einem brauchbaren Wort dafür herum, ohne einen Treffer zu landen) unterbrachen. Alle Uhren wurden gestoppt und ein Programm gestartet, das aus einer Datenbank mit insgesamt 444 Schachstellungen, alle aus Partien der letzten 200 Jahre entnommen, zehn zufällige auswählte und nacheinander als Diagramm auf der Großleinwand anzeigte. Zuvor entfernte das Programm einen zufälligen Stein aus der Stellung. Einfach wahllos irgendeinen; mit etwas Pech auch einen am Geschehen völlig unbeteiligten Randbauern. Meine Aufgabe bestand nun darin zu sagen, wer die Partie gespielt hatte (Weiß & Schwarz), welcher Zug in der Partie als nächstes folgte und v.a. welcher Stein von welchem Feld vom Computer entfernt wurde.


Die Bedienung des PCs für diese Aufgabe übernahm meine Frau Anne, die mich auch während der Vorbereitung immer mal wieder abgefragt hatte. Sie war nach eigenem Bekunden so nervös, dass sie kaum die Maus ruhig halten konnte. Die Aufgaben liefen gut bis auf eine: Wie es der Teufel so wollte, kam ausgerechnet eine der Stellungen auf die Leinwand, die ich schon im Vorfeld immer und immer wieder durcheinander gebracht hatte. Jeder kennt das noch aus der Schulzeit, wo es Vokabeln gab, die man hundert Mal lernte, nur um sie beim 101. Mal erneut vergessen zu haben. In meinem Fall war es die Partie Slonim - Riumin. Die Stellung, den fehlenden Stein und den Namen des Nachziehenden konnte ich noch bestimmen, aber wie zum Henker hieß der Stinker, der Weiß hatte? Alles, was ich noch wusste war, dass er mit 'S' begann und die Buchstaben m und n bei ihm in umgekehrter Reihenfolge wie bei Herrn Riumin standen, also tippte ich resignierend auf "Siunim". Immerhin wurde auf diese Weise ein hübscher Zungenbrecher daraus, der dem Moderator große Probleme bei der Aussprache bereitete :-).

 

Zurück im Zeitchaos

Nach diesem kleinen Gag fürs Publikum und das Dokuteam nahmen alle Spieler wieder Platz und die Partien wurden ganz normal fortgesetzt. Es war mir in der Zwischenzeit natürlich nicht erlaubt gewesen, einen Blick auf die Stellungen zu werfen, so gerne ich das getan hätte :-). Ich bin mir nicht sicher, ob der erste Punkt noch vor oder kurz nach der Pause vergeben wurde, aber jedenfalls irgendwann hier fiel das 1:0 für mich. Frank Jarchov, der mir nunmehr schon zum...Moment...fünften(?) Mal bei einer Blindveranstaltung als Gegner gegenübersaß, hatte die Eröffnung nicht zum Besten behandelt und musste schließlich aufgeben, als sein aufgerissener Königsflügel auseinanderfiel und die weißen Figuren dort den Honig einzusammeln begannen. Doch der erhoffte Schneeballeffekt blieb leider aus; es sollte noch über eine Stunde dauern, ehe die zweite Partie beendet sein würde - und in der Zwischenzeit schmolz mein vermeintlich dickes Zeitpolster mehr und mehr dahin. Einige komplizierte Stellungen v.a. an den Brettern 2, 4, 9 und 11, wo meine Gegner allesamt dieses ruchlose Königsindisch aufs Brett schmierten, kosteten mich derart viel Zeit, dass ich pro Umlauf zwischen 10 und 20 Minuten verlor. Also pro Zug und pro Brett! Es musste unbedingt etwas geschehen, sonst würde ich alsbald in horrende Elfbrettzeitnot kommen. Ich entschied, in den unklaren Partien Vereinfachungen und den Remishafen anzustreben und in den Partien mit besserer Stellung eine schnelle Entscheidung zu suchen, ohne Rücksicht auf Risiken. Ein Konzept, das glücklicherweise aufging, auch begünstigt durch den Umstand, dass sich meine Gegner inzwischen ebenfalls in Zeitnot befanden. So endeten in der dritten Spielstunde 6 Partien im Abstand von gerade einmal 30 Minuten:

Ein Pünktchen noch...

Damit stand es 5,5:1,5 und zum Gesamtsieg fehlte nur noch ein Punkt, doch meine Zeit machte mir nach wie vor große Sorgen, denn inzwischen war sie an den verbliebenen Brettern auf unter 40 Minuten heruntergelaufen. Längere Denkpausen konnte ich mir nunmehr nicht mehr erlauben, ohne plötzlich an allen Brettern ins Disaster zu schlittern, aber das ist als Blindspieler leichter gesagt als getan - man kann einfach nicht im Blitztempo ziehen, es braucht immer mindestens 30 Sekunden bis 1 Minute, bis man sich orientiert hat. Dennoch war es eine große Erleichterung, dass nur noch 5 Partien liefen. Der nächste und damit der Matchpunkt fiel an Brett 5, wo Angelo Missione bereits in der Eröffnung mit ...Lg4 einen bekannten Trick zuließ und in der Folge zwar tapfer, aber eigentlich für eine verlorene Sache kämpfte. Ein stilvolles Matt beendete die Partie und entschied das Match damit zu meinen Gunsten.

Die übrigen Bretter gingen dann recht schnell zu Ende. Zunächst überschritt Holger Walliser an Brett 9 in allerdings auch verlorener Stellung die Zeit. Diese Partie würde ich im Nachhinein als die beste des Wettkampfes bezeichnen, zumindest aus meiner Sicht. Nachdem ich an Brett 1 gegen Igor Frühsorger ins Remis abgewickelt hatte, holte mein König in der Partie gegen Michael Wagner an Brett 12 seine verbliebenen Bauern ab und schießlich blieb es einmal mehr Sven Heyer vorbehalten, wie schon beim Weltrekord die letzte Partie zu spielen: In einem Läuferendspiel versuchte er mit 2 Minusbauern noch alles, um das Blatt zu wenden, doch am Ende liefen die Herrschaften einfach durch. Damit war der Endstand von 10:2 (+8 =4 -0) perfekt und ich konnte erleichtert aufatmen.

Ja hm...an solchen Stellen schreibt man ja normalerweise ein bedeutungsschwangeres Fazit, also was sage ich? Eigentlich vor allem, dass es mir unheimlich viel Spaß gemacht hat und dass ich